Atemberaubend Schönes und bedrückende Schatten

„Biblische Reise“: Impressionen von einer Fahrt durch Armenien

Erfahrene Wirklichkeit korrigiert vieles, eine Reise lässt eine Region lebendig werden, schafft neue ungeahnte Bezüge zu Landschaften, Menschen, ihrer Kultur und Geschichte. Und man kommt zurück, voller Bilder, tiefer Eindrücke, Begegnungen mit Fremden, Bewohnern des Landes. Eine Reise durch Armenien hinterlässt besondere Erinnerungen.

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Von Veit Wagner

Armenien? Warum gerade Armenien?“ Das waren öfters Reaktionen auf den Hinweis, an Pfingsten sich einer Reisegruppe von „Biblische Reisen“ anzuschließen, ausgeschrieben von der Diakonie Weiden unter Leitung des Vorstands Diakon Karl Rühl. Begleitthema: „Noah. Von Anfang zu Anfang“. Ja, Armenien, das ruft unklare Vorstellungen wach: Irgendwo hinter der Türkei, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, vielleicht Kleinasien, am Kaukasus, da mag es wohl liegen, das kleine Land mit weit zurückreichender christlicher Tradition. Die jüngsten Schlagzeilen kommen in den Sinn: Berg-Karabach, Streit mit Aserbeidschan. Fragen an Radio Eriwan vielleicht noch.

Armenien und seine 3000 Jahre alte Geschichte tut sich auf, Armenien, das schon im Jahre 301 christlich geworden ist, Armenien, das einst viel größer war, dessen Gebiet sich ständig verändert hat durch die Besetzungen der anrennenden, inzwischen längst untergegangenen fremden Herrscher aus den Weiten Asiens, durch die Annexionen der Nachbarn. Armenien, das durch eine grausame Politik der Jungtürken im 2. Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts nahezu 1,5 Millionen Menschen verloren hat: Ja, man muss es Völkermord nennen. Wir wissen: Die Resolution zum Genozid wird in den nächsten Tagen auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages stehen. Wir wissen auch, dass es nach dem Ersten Weltkrieg Teil der Sowjetunion war und erst seit 1991 ein unabhängiger Staat geworden ist.

Wir landen in Jerevan (Eriwan) auf dem modern-gestylten Flughafen Zvartnots, und Lilia, unsere sympathische Reiseleiterin, eine äußerst kundige und gebildete Frau, nimmt uns in Empfang und wird uns mit ihrem exzellenten Deutsch auf dieser neuntägigen Reise begleiten, informieren und wirklich umsichtig umsorgen.

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Fein-grazile Erhabenheit

Mit „Bári lujs!“ begrüßt sie uns jeden Morgen. Nicht so der Ararat. Der Berg von Noahs Arche versteckt sich noch hinter Wolken im Morgendunst. Erst am letzten Morgen wird er uns seine volle Schönheit anbieten, schneebedeckt und von fein-graziler Erhabenheit, wie der Fujiyama in Japan.

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Im „Ani Plaza,“ einem 4-Sterne- Hotel im Zentrum der 1,3 Millionen- Stadt werden wir in den obersten Stockwerken mit herrlicher Sicht untergebracht, und es fehlt uns an nichts. Quirlig wirkt die Stadt, erinnert in manchem an Paris mit seinem Platanenbestand und durchaus vielen modernen Autos in den Straßen, zeigt im Zentrum großstädtische Bauten und Monumente – eine Welt voller gut gekleideter, selbstbewusster Menschen. Man spürt das Flair einer Millionenstadt.

Von oben blicken wir in die Stadt, über die berühmte Kaskade hinunter auf das grünlich-klassische Opernhaus, sehen zur Villa hinab, die die Einwohner Charles Aznavour geschenkt haben, ihm, dem vielleicht bei uns bekanntesten Armenier. Er besucht sie gelegentlich.

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Wir hören, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung Armeniens in dieser Stadt lebt, dass viele reiche Auslandsarmenier hier Geld investieren, ihre Verwandtschaft unterstützen, beim Aufbau des Landes enorm mithelfen. Denn das Land ist arm: über 40 Prozent leben wohl unterhalb der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei 18 Prozent.

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Frischgrüne Landschaft

Einige erste Blicke auf die Fassaden des großen Wohnblocks, auf manche Brachflächen lassen das ahnen. Landeskundliche Informationen bestätigen es. Im Landesinneren wird uns das in den nächsten Tagen noch viel deutlicher bewusst. Was wir auf den Fahrten durchs Land, von Jerevan nach dem südlichen Goris (ganz nah am Übergang in die Krisenregion Berg-Karabach), hinauf zum Sevansee und in den Norden, erfahren, ist höchst bestimmend: Frühlingshaft frischgrüne Landschaft zieht vorbei, wir bewegen uns durch weite fruchtbare Ebenen im westlichen Türkei nahen Landstrich, blicken auf intensiv grüne Berghänge, Höhenzüge des Südkaukasus, durchfahren Schluchten an steilkantigen bizarren Felswänden entlang, erleben intensiv bewaldete Gebiete und weite windverwehte Hochebenen.

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Das intensive Grün des frühen Sommers wird als haftende Grundfarbe im Gedächtnis bleiben, vielleicht auch immer wieder begleitet von den melancholischen Tönen der Dudukflöte. Noch mehr aber werden sich die Klöster in ihren Höhenlagen und mit ihren steinernen dunklen Kircheninnenräumen einprägen. In der Kirche zur Heiligen Hriphsimé in Edschmiatsin erschließt sich uns die Grundstruktur der meisten armenisch-apostolischen Gotteshäuser, eine Kreuzkuppelkirche mit bühnenähnlich erhöhtem Altarraum, der Bema.

Die Vorhallenmit ihren massiven Säulen, ihren Glockentürmen und Anbauten sind es, die uns dann immer wieder von neuem beeindrucken, vor allem, wenn sie spärlich beleuchtet, den Besucher magisch anziehen, nicht nur ihrer fremdartigen Namen wegen: Chor Virap, Noravankh, Tathev, Goschawank, Sanahin, Haghpat. Theologischer Mittelpunkt ist die in ihren Grundfestungen bis ins 4. Jahrhundert zurückreichende Basilika des Katholikos in Edschmiatsin, demVatikan dieses Landes. Wir führen Gespräche mit jungen Theologen und nehmen an einem feierlichen Pfingstgottesdienst teil, Chorgesang und Weihrauchduft durchdringt alles. Architektonischer und geographischer Höhepunkt ist wohl für manchen die Anlage des Höhlenklosters von Geghard am Talende der Azatschlucht mit seinen Kirchenräumen in großen Basalthöhlen, die in mystischem Dunkel liegen, nur spärlich von Stifterkerzen erhellt: Unesco-Welterbe.

Neben den Kirchen sind es die Kreuzsteine, die im Gedächtnis haften bleiben: Große Tafeln aus rostfarbenem Tuff oder aus dunklem Basalt mit feinsten künstlerischen Gravierungen. Im Dorf Noratus auf einer Halbinsel im Sevansee stehen über 650 solcher vielfältig gestalteten Chatsch’khare auf einem weitläufigen Friedhofsfeld. Sie sind aber mehr als Grabsteine, sie dienen als Denkmale, als Symbole des christlichen Glaubens, als Mahner und Beschützer.

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Mit 36 Buchstaben

Erwähnen muss man unbedingt aber auch jene kleinen, überaus kunstvollen Buchillustrationen und Handschriften, die das Mashtots-Matenadaran-Institut zur Schau stellt, das zentrale Archiv für alte christliche, aber auch historische Handschriften, von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt.

Die überlebensgroße Figur des Mesrop Maschtots vor dem Bau erinnert an den Mönch und Heiligen, der zu Beginn des 5. Jahrhunderts das armenische Alphabet mit 36 Buchstaben entwickelte. Überall auf unserer Fahrt werden sie uns begegnen, und nach einiger Zeit lassen sich Worte lesen.

Ein weiterer Höhepunkt ist das verlassene Höhlendorf Chndzoresk an einem Hang unweit der kleinen südlichen Stadt Goris. Man gelangt zu ihm über eine lange schwankende Hängebrücke, die über eine Schlucht führt. Später, oben am Selim-Pass auf einer Höhe von 2400 Metern, treffen wir auf eine einsame graue Karawanserei aus dem 14. Jahrhundert, die hingeduckt an der Seidenstraße wie eine düstere Stallung aussieht, in ihrem fast lichtlosen Inneren aber eine beeindruckende Atmosphäre entwickelt.

Bei der Weiterfahrt gehen einem mittelalterliche Vorstellungen vom Alten Orient nicht mehr aus dem Sinn. Auch die Fahrt durch das Erdbebengebiet von 1988 mit seinen Industriebrachen, die Blicke auf die Jezidendörfer im Norden werden einem immer wieder durch den Kopf gehen. Wie auch der Besuch im Dorf Garni, wo eine politische Blockade der Bauern („die Oligarchen wollen ihren kleinen Fluss umleiten“) uns die Durchfahrt zum hellenistischen Tempel Garni versperrt hat. Den erreichen wir zu Fuß, grüßen dabei freundlich die Anwohner.

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Mit Privatautos werden wir schließlich durch die Berglandschaft zum Felsenkloster gefahren, wo uns die reinen Gesänge des Garni-Vocal-Quintett in den düsteren Räumen des Berginneren ein wirklich nachhaltiges Raum- und Gefühlserlebnis vermitteln. Später werden wir in einen kleinen sommerlichen Privatgarten eingeladen, wo vorgeführt wird, wie man jene riesigen Brotlappen (Lawash) in irdenen Ofenhöhlen backt. Nach wenigen Minuten werden sie aus der Tiefe gezogen und uns angeboten: warmes, dünnhäutiges, knuspriges Backwerk, das uns auch zum Mittagstisch unter schattigem Dach gereicht wird.

Fein gedeckte Tische

Überhaupt all diese Mahlzeiten an langen, fein gedeckten Tischen, in den Hotels, Restaurants, auf Balkonen oder auf Terrassen: ein lukullisches und ein Gemeinschaftserlebnis zugleich. Nein, nicht daran denken, wenn man auf dem Rückflug an seinem eben gratis gereichten Waffelstückchen knabbert…

Vielleicht hilft einem mancher Gedanke, den Diakon Rühl in seiner täglichen Meditation den 30 Mitreisenden auf den Weg gegeben hat: Dass es mehr gibt als die leiblichen Dinge. Schließlich war es ja eine biblische Reise, eine pfingstliche Wallfahrt – allerdings eine ungeheuere.

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