Pflege ohne Gitter und Gurte

Weidener Heime wollen „freiheitsentziehende Maßnahmen“ vermeiden

Weiden. (rg) Gitter am Gestell sollen verhindern, dass Senioren aus dem Bett fallen. Eigentlich. Stattdessen erhöht sich die Verletzungsgefahr gerade durch die Barriere: wenn die Pflegebedürftigen versuchen, über das Gitter zu klettern. Der Sinn von sogenannten „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ in Pflegeheimen ist inzwischen höchst umstritten. Auch bei den Verantwortliche in Pflegeheimen selbst. Und so verpflichten sich die acht Weidener Einrichtungen, auf Gurte und Gitter künftig möglichst zu verzichten.

Dieses Bemühen dokumentieren Zertifikate, die OB Kurt Seggewiß und Bärbel Otto, Leiterin der städtischen Seniorenfachstelle, am Mittwoch im Rathaus überreichen. Der vorläufige Abschluss eines Projekts, das die Heimaufsicht der Stadt vor eineinhalb Jahren gestartet hatte. Ziel: „die Reduzierung körpernaher freiheitsentziehender Maßnahmen“. Sämtliche Pflegeheime, so freut sich Bärbel Otto, hätten sich beteiligt, um ein zeitgemäßes Maß „zwischen Fürsorge und Autonomie“ (Projekttitel) zu finden. Sie nahmen an Infoveranstaltungen teil, schulten das Personal

 

 

Weltweit zeigt keine Studie einen positiven Effekt von Fixierungen. Projektleiterin Bärbel Otto

 

 

Dafür gibt es Urkunden für das AWO-Seniorenheim Franz Zebisch und das Pflegeheim des Diakonischen Werkes. „Sonderzertifikate“ erhalten das AWO-Seniorenheim Hans Bauer, das BRK-Seniorenwohn- und -pflegeheim sowie das St.-Michaelszentrum. Denn sie schrieben sogar in ihrer Konzeption fest, auf Fixierungen gänzlich zu verzichten. Auch die restlichen Heime bemühten sich weiter um Zertifikate, versichert Bärbel Otto. Vereinzelt fehlten dazu noch Mitarbeiterschulungen. Im März 2010 hätten noch alle Einrichtungen auf Gitter und Gurte gesetzt, um eine Sturzgefahr zu bannen oder „herausfordernden Verhaltensweisen“ zu begegnen, blickt die Projektleiterin zurück. Eine Praxis, die den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht. Denn die besagten, dass die „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (FEM) die Risiken oftmals sogar noch erhöhen.

„Fixierte Menschen stürzen mindestens gleich häufig wie nicht fixierte“, zitiert Bärbel Otto aus Untersuchungen. Und sie stürzten schwerer. Fazit: „Weltweit zeigt keine Studie einen positiven Effekt von Fixierungen.“ „Sichere Pflege ohne FEM ist möglich“, behauptete Bärbel Otto gegenüber den Heimleitungen – „und wir haben damit offene Türen eingerannt“. Dafür dankt auch OB Kurt Seggewiß den Verantwortlichen. Er verweist auf Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

HINTERGRUNG

Lieber Partner als Überwacher

Weiden. (rg) So ausufernd der Name, so klein, aber fein die Besetzung. Die einstige Heimaufsicht heißt jetzt „Fachstelle Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht“ – kurz: FQA – und besteht aus vier Mitgliedern: Evelyn Friedmann vom Gesundheitsamt, Sozialamtsleiter Christian Hölzl, Bärbel Otto, Leiterin der Seniorenfachstelle der Stadt, und Dr. Renate Kersten-Nickl. Dieses „multiprofessionelle Team“ prüft die Qualitätsstandards in den Pflegeeinrichtungen, versteht sich dabei aber „nicht als Überwachungsbehörde, sondern als Partner und Ratgeber“, wie Evelyn Friedmann betonte. Die aktuellen Prüfberichte sollten bereits seit 1. Oktober im Internet abrufbar sein (www.weiden.de/soziales/fqa/). Bärbel Otto bat allerdings für Verständnis, dass ein Unfall von Koordinator Hölzl dazwischenkam. Erst im Januar könnten die Berichte veröffentlicht werden.

Erfolg in Zahlen

Vor eineinhalb Jahren ergriff Bärbel Otto von der FQA (Heimaufsicht der Stadt) die Initiative: Die acht Pflegeheime der Stadt sollten fortan „freiheitsentziehende Maßnahmen“ (FEM) – das Fixieren von Bewohnern an Bett, Stuhl oder Tisch – vermeiden. Den Erfolg belegt die Leiterin des Projekts „Zwischen Fürsorge und Autonomie“ mit einer Studie: Im Juli 2010 fand sie demnach unter 632 Heimbewohnern in Weiden 123 vor, bei denen FEM angewandt wurden. Ein Jahr später waren es 629 Bewohner – und nur mehr 72 FEM.

Die „Fixierungsquote“ verringerte sich damit von 19,5 auf 11,4 Prozent. Nicht nur ein Rückgang um 41,5 Prozent – „auch in Dauer und Intensität“ hätten die Maßnahmen abgenommen, berichtet die Expertin. Wohlgemerkt: Stand der Studie ist Juli. Bärbel Otto zu den Verantwortlichen: „Das ist längst Geschichte. Sie sind natürlich schon wieder viel weiter.“ (rg)

Weitere Informationen im Internet:

www.stmas.bayern.de/pflege/pflegeausschuss/fem-leitfaden.pdf

www.redufix.de

www.leitlinie-fem.de/materalien/sonstiges/

Quelle: Der neue Tag, Weiden www.oberpfalznetz.de

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