„Auf einmal standen Morddrohungen im Raum, es war wie im Actionfilm.“
Monatelang, jahrelang wurde Anna von ihrem Freund bedroht, beleidigt, geschlagen. Ihre Rettung fand sie im Weidener Frauenhaus. Annas Geschichte ist kein Einzelfall. Sie erinnert sich.
Von Maria Oberleitner
Weiden. Die gepackte Reisetasche stand einen Monat lang im Schrank von Annas Freundin. Darin die nötigsten Klamotten für sich und die Kinder, wichtige Papiere und Unterlagen – und ihr Schmuck. „Eigenes Geld hatte ich ja keines“, gesteht Anna. Sie griff sich im gemeinsamen Haus noch die Schulranzen der Kinder – und ging. Anna hat ein neues Leben angefangen – in Weiden.
Was sich liest wie der Bericht einer Auswanderin, ist eine Geschichte häuslicher Gewalt. Anna, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat acht Monate lang mit ihren drei Kindern im Weidener Frauenhaus gelebt. Inzwischen hat sie eine eigene Wohnung – ein eigenes Leben. Die junge Frau erzählt von stressigen Arbeitstagen im gemeinsamen
Familienbetrieb und vom Frust, den ihr Partner schließlich an ihr ausgelas-sen hat. Schläge, Beleidigungen, Affären. Sie hatte große Angst. „Auf einmal standen Morddrohungen im Raum, es war wie im Actionfilm. Rückblickend kann ich sagen, dass das alles wie eine Luftblase war. Es war nichts dahin-ter.“ Ein wenig verlegen schiebt sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Inzwischen hat Anna wieder Kontakt zu ihrem damaligen Partner. „Damals
war ich abhängig von ihm. Er hatte das Geld, er hatte das Auto, er hatte die Macht. Wenn wir uns heute treffen und mir etwas nicht passt, steige ich in mein eigenes Auto und fahre.“ Sie wirkt selbstbewusst und souverän.
Wie im Paradies
Der Tag, an dem sie sich entschied, ins Frauenhaus zu gehen, habe ganz
gut angefangen, sagt Anna. Aber dann kam es zu einem großen Streit, der Mann wurde handgreiflich. Sie war vorbereitet, hatte die Entscheidung, einen endgültigen Schnitt zu machen monatelang mit sich herumgetragen. Sie hatte auf den einen Moment gewartet – nun war er gekommen. Zeit, die gebunkerte Reisetasche abzuholen. In dem Frauenhaus in ihrer Heimat-stadt aber fühlte sie sich „wie im Gefängnis“– wegen der räumlichen Nähe zum Täter. „Schon am dritten Tag wusste ich, ich kann hier nicht bleiben.“ Also kam sie nach Weiden. „Ich hatte sämtliche Handykarten zerschnitten, alle Social-Media-Kanäle blockiert. Nur für meine Eltern war ich noch erreichbar.“ Ein großer Schnitt, ein schwieriger Schritt. „Und dann war ich in Weiden: Mir erschien das Frauenhaus wie ein Paradies. Auch, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht die Einzige bin, der so etwas passiert ist.“ Das Paradies: Drei Stockwerke mit Zimmern, Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftstoiletten. Platz für sieben Frauen mit ihren Kindern. Jede Frau kann so lange bleiben, wie sie braucht. Um eine Wohnung, einen Job, Kindergarten oder Hortplätze zu bekommen. Jede ist hier für ihren eigenen kleinen Haushalt zuständig. Stockbetten, Schrank, Tisch. Wohnen wie im Schullandheim. In den Regalen stehen Ordner neben Gesellschaftsspielen und Kuscheltieren. Alles wirkt fröhlich und bunt. Die Wände, die Bettwä-sche, die Bilder. Hier ist ein Vögelchen an die Wand gezeichnet, dort ein Kätzchen. Auf dem Balkontisch liegt das „Dschungelbuch“ und die „Geschichte von der Ponyfee“. Daneben stehen etliche Wäscheständer. Am
Fensterbrett liegen bemalte Steine, blickt man nach unten, sieht man im Garten Rutsche und Schaukel. Das Gartentor ist geschlossen. Ohne einen Schlüssel kommt niemand hier weder rein noch raus. Auch die Mauer ist hoch, die Fenster im ersten Stock mit Milchglasfolie verklebt. Das bietet ein Stück Anonymität und Sicherheit. Denn deshalb sind die Frauen hier: Sie suchen Schutz. Einfach, unkompliziert, anonym.
Neues Zuhause: Weiden
Das Weidener Frauenhaus ist zuständig für die Kreise Tirschenreuth und Neustadt sowie die Stadt Weiden. Die sieben Plätze, die es gibt, errechnen sich aus der Bevölkerungszahl. Trotzdem suchen nicht nur Oberpfälzerin-nen hier Schutz, meist sind Frauen aus ganz Deutschland da. Zum Beispiel Dalal. Die 39-Jährige kam mit ihren vier Kindern aus einer sächsischen Stadt nach Weiden. Sie floh regelrecht – vor ihrem Ex-Mann. Der hatte sie und ihre älteste Tochter geschlagen, angeschrien, gedemütigt, bedroht – immer und immer wieder. Und die Nachbarin rief immer wieder die
Polizei. Die Beamten nahmen Dalals damaligen Lebensgefährten beim x-ten Mal mit auf die Wache – und sie ging. Erst in ein Frauenhaus in ihrer Stadt. Weil sie dort aber vor ihm nicht sicher war, kam sie nach Weiden. „Es ist gar nicht so selten, dass Frauen dann in Weiden bleiben und die Stadt ihr neues Zuhause wird“, sagt Frauenhaus-Leiterin Enikö Nagy. Oder „Frau Enikö“, wie Dalal sie nennt. Die 39-jährige Dalal erzählt, ihre Kinder haben
nun neue Freunde in Weiden gefunden. Wenn sie von ihrem neuen Leben spricht, strahlt sie. Sie ist erleichtert – und dankbar. Dankbar, jetzt endlich sicher zu sein. Dankbar, unterstützt zu werden. Bei Behördengängen, bei Wohnungsbesichtigungen. „Es ist toll hier“, sagt sie. Sie wohnt mit ihren vier Kindern in einem 20-Quadratmeter- Zimmer. Luxus sieht anders aus.
Aber es geht nicht um Luxus. Es geht um Leben, um Sicherheit, um Freiheit, um Selbstbestimmtheit.
„Wer zu uns kommt, hat den schwersten Schritt schon hinter sich“, sagt Tina Braun. Die Kinder und Jugendbeauftragte arbeitet schon so lange für das Frauenhaus, dass sie es noch als Baustelle kennt. Vor 25 Jahren kümmerte sie sich auch um die Erstausstattung. „Irgendwie ist es auch mein Haus“, sagt die 57-Jährige. Sie spricht von der großen Scham, die viele Frauen erst überwinden müssen, bevor sie den Mut haben, sich in ein Frauenhaus zu flüchten. „Es ist ein Phänomen, dass sich die Opfer häuslicher Gewalt schuldig fühlen, als hätten sie persönlich versagt.“ Aber der Einzug sei für viele auch ein sozialer Abstieg in Gedanken, ergänzt
Nagy: Zuhause verloren, Ehe zerbrochen, Hartz-IV-Antrag. Sieben Jahre
halte es eine Frau im Schnitt in einer gewälttätigen Beziehung aus. „Ins Frauenhaus geht man ja wirklich nur, wenn man keine andere Lösung mehr sieht.“
Gewalt ist nicht gleich Gewalt
Dabei ist jede vierte Frau zwischen 16 und 82 in Deutschland mindestens
einmal in ihrem Leben von häuslicher Gewalt betroffen. Gewalt, die im Geheimen geschieht. Gewalt, die von der Gesellschaft gedeckt wird. Männer und Frauen jeden Alters und jeder sozialen Schicht sind davon betroffen. Und Gewalt ist nicht gleich Gewalt. „Eigentlich ist er doch ein guter Mann,
er schlägt mich ja gar nicht.“ Diesen Satz hören Enikö Nagy und ihre drei Kolleginnen öfter, als ihnen lieb ist. Häusliche Gewalt, erklärt Nagy, ist nicht nur physische Gewalt – auch vor sozialer, wirtschaftlicher oder psychischer Gewalt suchen Frauen Schutz. „Manchmal erzählen uns Betroffene ihre Geschichte und sind sich überhaupt nicht sicher, ob sie bei uns richtig sind.“ Man hört Nagy an, dass sie es eigentlich selbst kaum glauben kann. Anna hat die psychische Gewalt schlimmer verletzt als die Schläge. Sie erinnert sich: „Hier und da ein blauer Fleck, der geht ja wieder weg. Aber die ständigen Beleidigungen … irgendwann habe ich mich schon gefragt, ob es vielleicht stimmt, was er sagt.“ Auch deshalb, fordert Nagy, bräuchten die Frauenhäuser mehr Geld für psychologische Betreuung der Opfer. Die Täter
seien oft besser betreut als die Opfer. „Da muss man sich nur die Program-me der JVA ansehen.“ Gesprächskreise, Anti-Aggressions-Trainings, Selbst-reflektionsübungen. Für die Gewaltopfer ist nichts davon vorgesehen.
Politik statt Mitleid
Für das Frauenhaus fordert Nagy auch einen „vernünftigen Personal-schlüssel“. Konkret: Eine Vollzeit- Stelle mehr für Weiden. Ihre Vision:
Vernetzte, familienorientierte Zusammenarbeit zwischen Frauenhaus,
Täterberatung und Familienrichtern nach dem Vorbild des Münchener Modells. Denn gerade sei der Gesamtzustand unhaltbar. „Die Frauen, die zu uns kommen, sind keine Einzelfälle. Und wenn man einen Blick auf die Kosten häuslicher Gewalt wirft, ein zweifelhafter Luxus, den sich die Gesellschaft leistet.“ Gerade flächendeckende Prävention sei wichtig – auf
allen sozialen Ebenen. Denn: „Ein Aufenthalt im Frauenhaus schützt nicht vor Gewalt“, sagt Tina Braun. „Zu uns kommt teilweise schon die zweite Generation. Die Töchter ehemaliger Bewohnerinnen als Opfer, ihre Söhne als Täter.“
Manche Geschichten ließen sie nicht los, sagt Braun. „Ich habe schon ein dickes Fell – aber einiges geht wirklich unter die Haut. “Wenn sie und ihre Kolleginnen über ihre Arbeit reden, fragt man sich schnell, wieso sie nicht längst vor Wut rasen. Sie heilen Wunden, die erst gar nicht entstehen müssten. Wenn sich die politischen Rahmenbedingungen ändern würden. „Wir leben in einer Männerwelt, bei der wir nur mitmachen dürfen.“ Da müsse man sich nicht wundern, so Nagy, dass man nicht nur eine Schraube nachstellen müsse, um die Situation nachhaltig zu verändern
„Frauenhäuser gibt es nun seit gut 30 Jahren“, sagt Nagy. „Aber auch die Männerwelt muss sich mit entwickeln. Frauen brauchen kein Mitleid, sondern Mitgefühl und gesellschaftliche wie politische Veränderung.“
Deshalb sieht sie Täterarbeit und Prävention als Notwendigkeit. Geld für mehr Personal ist aber Mangelware. Deutschlandweit fehlen mehr als 14 600 Schutzplätze für Frauen. „In diesem Jahr mussten wir in Weiden bisher 26 Frauen absagen oder sie an andere Häuser weitervermitteln, weil wir einfach keinen Platz hatten. Und gerade in der vergangenen Woche haben in unserem Haus 16 Kinder gewohnt – das ist mehr als so manche Kinder-gartengruppe – und das ja nur zusätzlich zu den Frauen.“ Tatsächlich wenden sich eher Frauen mittleren Alters mit Kindern an die Sozialpäda-goginnen. Das könnte daran liegen, dass junge Frauen ohne Kinder eher Zuflucht bei einer Freundin finden können. Enikö Nagy mutmaßt aber
auch: „Der Ruf von Frauenhäusern auf dem Land ist möglicherweise eher altbacken. Eine hippe Beratungsstelle in Berlin zieht wohl mehr junge Frauen an.“ Braun spricht auch von einem Stadt-Land- Unterschied: „Grundsätzlich kommen mehr Frauen aus Städten zu uns.“ Das liege auch am sozialen Druck auf dem Land. Verschwinde hier eine Frau mit ihren Kindern über Nacht, falle das eher auf als in einer anonymen Miets-wohnung in der Stadt.
Corona: Keine Zeit, um zu gehen
Mit Corona-Maßnahmen und Ausgangsbeschränkungen habe sich
zwar die Zahl der Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt in China
und Frankreich verdreifacht – doch der erwartete Ansturm auf das
Frauenhaus in Weiden blieb aus, so Nagy. „Die Zeit der Ausgangsbe-schränkungen war keine Zeit, in der man seinen Partner verlassen hat. Viele Frauen wussten auch gar nicht, dass die Beratungsstellen noch geöffnet sind.“ Es habe sogar zwei, drei Fälle gegeben, in denen das Virus eine Aufnahme ins Haus verhindert habe.„Weil sie das Risiko einer Quarantäne im Haus als zu hoch empfand, hat sich eine Frau gegen eine Aufnahme entschieden und kamprivat unter“, erinnert sich Nagy. Sie hätte dann keinen persönlichen Kontakt zu ihren Söhnen haben können, die nicht mit ihr eingezogen wären. Was sie dafür in Kauf nahm: Zerstochene Fahrradreifen, ein verklebter Postkasten und diverse Beschimpfungen. „Frauen lassen eine Menge mit sich machen, wenn sie glauben, dass sie
damit die Familie schützen“, erklärt Braun. Und Kollegin Nagy ergänzt:
„Jede Krise belastet Frauen unverhältnismäßig mehr als Männer.“
15 Ehrenamtliche sorgen dafür, dass das Frauenhaus rund um die Uhr erreichbar ist. Sie übernehmen Telefondienste, helfen bei Hausaufgaben
oder Umzug, begleiten bei Wohnungsbesichtigungen, vermitteln Spenden.
„Ihr Mann wollte sie umbringen“ Elisa Wiesnet ist mit ihren 24 Jahren eine der jüngsten ehrenamtlichen Frauenhaus-Helferinnen, seit Februar über-nimmt sie Dienste. Ihr tut die Arbeit gut, sagt sie. „Das holt mich immer wieder auf den Boden zurück. Außerdem sollten Frauen zusammenhalten. Jeder in einer solchen Notsituation wäre froh, wenn jemand ans Telefon geht und hilft.“ Vor ein paar Nächten organisierte sie die Aufnahme einer Frau mit fünf Kindern. „Ihr Mann wollte sie umbringen. Das nimmt einen
schon mit.“ Manchmal träumt sie nachts von den Dingen, die Frauen ihr erzählt haben. „Und oft denke ich mir: Ich komme schon schwer damit klar, dass diese Frauen solche Dinge erleben müssen. Wie wird es dann den Frauen selbst erst gehen…“ Auch Waltraud Koller-Girke ist manchmal wütend. Für die Ehrenamtliche ist die Wut aber auch ein Antrieb, immer weiter zu machen. Die 72-Jährige hilft schon so lange mit, dass sie die jetzige Frauenhaus-Leiterin noch als Praktikantin erlebt hat. Sie erzählt von Piepsern, die sie vor Beginn des Handy-Zeitalters zu Beginn einer Rufdienst-
Schicht aus dem Büro holen muss. Heute wird einfach das Telefon auf das eigene Handy umgestellt. Sie erinnert sich an ihren ersten Einsatz vor 24 Jahren: „Ich war sehr aufgeregt, ob jemand anrufen würde.“ Schließlich habe keine Frau angerufen, sondern das Frauenhaus Nürnberg, die eine Unterkunft für eine Frau mit drei Kindern gesucht hatte. „Ich habe die vier dann mit dem Kleinbus abgeholt. Die Frau hatte sehr viel Angst vor ihrem gewalttätigen Mann und davor, dass er sie entdeckt. Als sie bei uns im Zimmer auf dem Bett saß, spürte ich, wie sie aufgeatmet hat. Sie war einfach nur erleichtert.“ Anna kann sich auch an diesen einen Moment erinnern, in der ihr die Last wie Steine von den Schultern fiel. Das Gefühl von Ruhe, Stille und Sicherheit hat sich ihr eingeprägt. Sie war angekom-men. Endlich wieder Luft zum Atmen. Nun konnte ihr neues Leben beginnen.