Isabella ist eine von rund 15 000 Frauen, die jedes Jahr vor Gewalt in Frauenhäuser fliehen. Mit nur einem Euro in der Tasche beginnt sie in Weiden ein neues Leben – ohne Gewalt und Manipulation.
von Maria Oberleitner
„Ich hatte nichts mehr – und doch alles.“ So erinnert sich Isabella an den Moment, in dem sie ihr neues Leben begann. Mit einem Euro Bargeld in der Geldbörse, einer Flasche Wasser in der Hand und dem Sohn auf dem Rücksitz des Autos fährt sie los, um einem Mann zu entkommen, der sie zehn Jahre lang tyrannisiert hat. Die Flucht ist nicht geplant, der Vater vermutet beide am Spielplatz. Dabei haben sie nur die Klamotten, die sie tragen, so fahren Mutter und Sohn stundenlang in Richtung Weiden. Denn hier im Frauenhaus, hat man Isabella gesagt, gibt es ein Zimmer für die beiden.
„Weiden in der Oberpfalz“, das hat der jungen Frau damals nichts gesagt. „Ich war so nervös. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich hinfahre.“ Das Handy musste ausgeschaltet bleiben, sonst hätte der Mann sie orten können. Von Polizisten lässt sie sich deshalb eine Wegbeschreibung ausdrucken. Sie fährt vorsichtig, ist immer auf der Hut: Weil das Auto auf den Mann angemeldet ist, muss sie aufpassen, dass sie nirgendwo geblitzt wird. Dass sie keinen Unfall, keine Panne hat, keinen Strafzettel bekommt.
„Man kommt nicht ins Gefängnis, weil man jemanden schubst“
Stundenlange Unsicherheit – und doch: Glück. Freiheit. Wo sie herkommt, wie alt Isabella ist und wie sie wirklich heißt sollen zu ihrem Schutz nicht in der Zeitung stehen. Denn obwohl der Mann, vor dem sie geflohen ist, gerade hinter Gittern sitzt, hat Isabella Angst, ihm irgendwann über den Weg zu laufen. „Er wäre der Typ, der nicht zögern würde, eine Waffe zu ziehen“, sagt sie.
Über die Gewalt, die er ihr angetan hat, spricht Isabella kaum. Ihr Sohn sagt, er ist enttäuscht vom Papa. Der Junge, noch keine zehn Jahre alt, kennt keine Details. Doch er weiß, dass der Vater Isabella wehgetan hat: „Man kommt ja nicht ins Gefängnis, weil man jemanden schubst.“
In Weiden finden Isabella und ihr Sohn erste Rückendeckung: Klamotten aus dem Second-Hand-Laden. Wieder mit Bankkarte bezahlen, ohne, dass er davon weiß. Kümmern um Anzeige, um Auskunftssperre und Sorgerecht. Wenn Isabella mit ihrem Sohn heute über das Frauenhaus spricht, nennt sie es „Villa Kunterbunt“. So vieles ist unsicher, stressig, macht Angst – und trotzdem ist da unendliche Erleichterung.
Dieser Frauenhaus-Aufenthalt ist nicht Isabellas erster. Schon nach wenigen Jahren Beziehung, der Sohn noch ein Säugling, floh sie das erste Mal vor ihrem Partner. Isabella erinnert sich an lange Gänge, steril wie in einer Klinik. An eine hohe Hecke mit Stacheldraht obendrauf. An vergitterte Fenster. Wenn man sie fragt, ob sie sich nicht im Gefängnis gefühlt habe, antwortet sie: „Im Gegenteil. Wir waren sicher.“
Mit ihrer Geschichte und der Suche nach Sicherheit ist Isabella nicht allein. Im vergangenen Jahr war sie eine von 33 Frauen, die Zuflucht im Weidener Frauenhaus fanden, im Jahr 2022 haben hochgerechnet auf die rund 400 Frauenhäuser in Deutschland gut 14 400 Frauen und 16 670 Kinder und Jugendliche Schutz in einem Frauenhaus gefunden. Jedes Jahr beschützen Frauenhäuser mehr Kinder als Frauen vor häuslicher Gewalt. „Diese Kinder“, das betont Frauenhaus-Leiterin Enikö Nagy im Gespräch, „sind immer mit betroffen.“ Auch, wenn die Gewalt nicht gegen sie gerichtet ist, wie es auch bei Isabella und ihrem Sohn war: Trotzdem sah der Sohn die Wutausbrüche des Vaters, hörte die Schreie, spürte die Angst und Unsicherheit der Mutter. Und der Vater hatte das Kind fest eingewebt in sein Netz der emotionalen Erpressung und Manipulation.
Inzwischen haben Mutter und Sohn eine eigene Wohnung. Isabella ist wieder selbstbewusst, sicher, offen. Sie brauchte dafür Zeit, erinnert sie sich. Wochen vergingen, bis sie sich nicht mehr auf der Straße suchend umdrehte. „Wenn du abhaust, werde ich dich verfolgen“, die Drohung klang lange nach. Suchende Blicke im Supermarkt, beim Spazierengehen, beim Sport.
Die Eskalationsschleife steigert sich
Wo Isabellas Mann anfangs äußerst aufmerksam ihr gegenüber war, ihr das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein, wurden Komplimente und Zuneigung später seltener, stattdessen etablierte er Kontrolle, Manipulation. „Er hat mich oft niedergemacht, mir jegliches Talent und Können abgesprochen“, erinnert sie sich. Er untersagte ihr, mit Freunden über „Familiendinge“ zu sprechen. Irgendwann, erinnert sie sich, habe sie Kontakte gemieden. Sie war allein. Die Gewalt, psychisch und physisch, nahm währenddessen stetig zu. „Ich lebte in ständiger Angst vor seinem nächsten Ausbruch“, erzählt Isabella.
Nagy spricht von einer „Eskalationsschleife“: „In Missbrauchsbeziehungen gibt es auch gute und schlechte Tage“, erklärt sie. „Aber die Gewalt, die steigert sich, die Abstände zwischen den Ausbrüchen werden kürzer. Und sie fällt nie wieder auf Null zurück.“ Und so spricht Isabella von dem einen Streit, der alles veränderte: Er hatte sie gezwungen, sich in den nächsten zwei Tagen das Leben zu nehmen. Ihr detailliert erklärt, wie genau sie was wann tun sollte. „Mir wurde klar, dass ich so nicht weiterleben kann. Vermutlich hätte es auch meinen Tod bedeutet, bei ihm zu bleiben.“
Isabella verließ mit ihrem Kind das Haus – und schon im Auto wusste sie: Es gibt kein zurück. Ob der Sohn trotzdem mit ihr kommen wolle – oder lieber beim Vater bleiben? Die Antwort berührt Isabella noch heute: „Mama, was für eine Frage. Natürlich bleibe ich bei dir.“ Die Mutter war – und ist – seine Bezugsperson, seine Verbindung zur Welt.
Weiter – ins „Hexenhaus“
So richtig Luft holen können Mutter und Sohn hier in Weiden auch nicht, keine zwei Wochen können sie bleiben, weil Isabella bemerkt: Das beim Partner verbliebene I-Pad empfängt offenbar auch Standortdaten, wenn ihr Handy aus ist. Also weiter. Diesmal mit dem Zug, diesmal mit zwei Koffern und drei Tüten. Zwischen ihrem alten Zuhause und dem Obdach für die kommenden sechs Monate – Isabella und ihr Sohn nennen es liebevoll „Hexenhaus“ – sollten schließlich 900 Kilometer liegen.
Fragt man sie heute, wie die Zeit im „Hexenhaus“ war, sagt Isabella: „Nervenaufreibend. Und anstrengend.“ Laut sei es gewesen, und voll. „Die Zimmer waren zum Teil doppelt belegt, insgesamt waren 20 Kinder auf engstem Raum beisammen. „Die einen mussten Hausaufgaben machen, andere waren laut – und wieder andere wollten gern schlafen“, erinnert sie sich. „Aber“, schiebt sie schnell hinterher, „es ist alles besser als kein Dach über dem Kopf zu haben.“
„Ins Frauenhaus geht nur, wer wirklich keinen anderen Ausweg mehr sieht“, sagt Enikö Nagy. „Und das ist meist erst sehr spät im langen Gewaltverlauf.“ Zwei Drittel der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen suchen sich gar keine Hilfe. Und trotzdem ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Frauen, die vor Gewalt fliehen, einen Schutzplatz finden – in Weiden muss jede dritte Anfrage abgelehnt werden: Platzmangel. Schutzsuchende sehen sich oft gezwungen, beim Gewalttäter zu bleiben: Bundesweit fehlen gemessen an den Empfehlungen des Europarates über 14 000 Frauenhausplätze.
Nach Aufenthalten in drei verschiedenen Häusern in ganz Deutschland lebt Isabella nun ein neues, selbst bestimmtes Leben. „Obwohl mich das Jahrzehnt mit einem narzisstischen Partner und die Erfahrung häuslicher Gewalt tief geprägt haben“, sagt Isabella heute. Mit ihrer Geschichte will sie vor allem eins: anderen Betroffenen Mut machen, den Schritt zu wagen und sich Hilfe zu suchen. „Niemand sollte in Angst leben müssen, und es gibt immer einen Weg hinaus – besonders, wenn man die Verantwortung für ein Kind trägt.“
Quelle: Der neue Tag